Eine Reise zur Mitte der Erde sei es gewesen. Eine Reise in ein Land, in dem die Äquatorlinie mitten durch Amazonaswälder, Andengebirgszüge, Vulkane und Küstengebiete verläuft und zudem bei der Namensgebung Pate stand: Ecuador. Dort braucht es nur einen Schritt, um von der Nord- zur Südhalbkugel zu wechseln. Genau diesen Perspektivwechsel hat die Studienreisende Andrea Seitz gesucht. Sie wollte aus erster Hand erfahren, wie ihre Geldanlage bei Oikocredit das Leben von Hängemattenwebern, Stickerinnen oder Kleinbauern im Hochland Ecuadors verändert. Ecuador gehört immer noch zu den sogenannten „Ländern des globalen Südens“ wie inzwischen der politisch korrekte Begriff für „Entwicklungsländer“ lautet. Es ist nicht mehr ganz arm, aber auch nicht reich. Vermutlich würde auch der 55-jährige Ecuadorianer Rafael Morales seine wirtschaftliche Situation so bezeichnen. Ihn hat Andrea Seitz auf ihrer Studienreise besucht. Der Kleinunternehmer ist ein echter Selfmademan. Das Weben hat er sich von Freunden beibringen lassen. Dank seines kreditfinanzierten Webstuhls entstehen nun jede Woche an die 50 farbenfrohe Hängematten in seiner Werkstatt. Sie sorgen für ein gutes Einkommen.
Fragile Wirtschaft
Wie für ihn hat sich in Ecuador in den vergangenen Jahren vieles zum Besseren entwickelt. Die Infrastruktur gehört inzwischen zu den besten in Lateinamerika, die Gesundheitsversorgung ist gut, die soziale Absicherung wird ausgebaut, die Löhne sind gestiegen. Allerdings ist die heimische Wirtschaft stark vom Export abhängig; die positive Entwicklung steht somit auf hölzernen Beinen. Waren früher Kakao und Bananen die Devisenträger, so setzten die Regierungen seit 1973 zunehmend auf Erdöl. Sinkende Weltmarktpreise machen dem Land immer wieder zu schaffen, Wirtschaftskrisen – wie zuletzt im 1999 – sind vorprogrammiert.
Buen vivir – indigene Gemeinwohlökonomie?
Eine wirksame Gegenmaßnahme ist der Aufbau einer tragfähigen Binnenwirtschaft. Tatsächlich weckten der Regierungswechsel mit Präsident Correa und das 2008 eingeführte Staatsprinzip des „Buen Vivir“ viele Hoffnungen. Das Lebensprinzip aus der Tradition der indigenen Andenvölker richtet sich nämlich am Gemeinwohl aus und geht von einer ganzheitlichen Betrachtung von Mensch und Natur aus. Anders als im Kapitalismus haben grenzenloses Wachstum oder Konsum als Selbstzweck darin keinen Platz. Der Weg zum „guten Leben“ setzt auch nicht bei Konzernen, sondern auf kommunaler Ebene an und fußt auf Solidarität zwischen Einzelnen und Gemeinschaften. Solidaritätspraktiken haben in den Anden eine lange Tradition. „Ranti-Ranti“ ist zum Beispiel ein Warentausch ohne Geld, bei dem Produkte und Arbeitstage in einer endlosen Kette übertragen werden; hinter „Minka“ verbergen sich Gemeinschaftsarbeiten für größere Projekte, die dem Kollektiv nutzen.
Solidarstruktur „Genossenschaft“
Leider gelang es der Regierung nicht, ihre guten Vorsätze konsequent umzusetzen. Die Diversifizierung der Wirtschaft verläuft eher schleppend und weder Kleinbauern noch Mittelstand erhalten ausreichend staatliche Unterstützung. Daher sind Alternativsysteme umso
wichtiger. Auch Mikrofinanz gehört dazu. Nach der Wirtschaftskrise 1999, als 70 Prozent der Finanzinstitute schließen mussten, sind im strukturschwachen Andengebiet viele Spar- und Kreditgenossenschaften entstanden. So auch die Oikocredit-Partnerorganisation Santa Anita. Dass genau diese Unternehmensform gewählt wurde, ist im Übrigen nicht überraschend. Passt sie doch mit ihren Grundprinzipien „Selbsthilfe, Selbstverwaltung, Selbstverantwortung“ gut zur andinen Lebensform. „Mir gefällt die Idee, gemeinschaftlich unser Leben zu verbessern“, sagt Morales. Er war eines der Gründungsmitglieder von Santa Anita. Inzwischen zählt die Genossenschaft über 9.000 Mitglieder. Anders als viele andere Banken arbeitet Santa Anita vor allem im ländlichen Raum. Vielen Wettbewerbern ist das Geschäft dort nicht lukrativ genug. Die Kundschaft wohnt oft in entlegenen Gegenden, was für die Kreditsachbearbeiter längere Wege auf schlechten Straßen bedeutet. Auch das Risiko für das Finanzinstitut ist mitunter höher, denn schnell können Wetterkapriolen oder Schädlingsbefall bei landwirtschaftlichen Kunden eine Ernte zunichtemachen. Weil aber genau auf dem Land der Bedarf am größten ist, ist dort auch die soziale Wirkung der Finanzdienstleistungen am höchsten. Und tut am meisten Not. Denn während in ganz Ecuador der Anteil der armen Bevölkerung auf ein Viertel gesunken ist, sind es auf dem Land immer noch über 40 Prozent. Vor allem Indigene leben dort. „Santa Anita hat eine wichtige Funktion im Andenhochland. Auch hier möchten die Menschen ihr Geld sicher anlegen. Und wo es kein Online-Banking oder Bankfilialnetz gibt, braucht es Institutionen, die staatliche Leistungen wie die Sozialhilfe ausbezahlen – und natürlich Kredite zu guten Konditionen vergeben“, erzählt Seitz. Das Kapital für die Kreditvergabe bekommt die Mikrofinanzinstitution Santa Anita über Spareinlagen sowie über ein Oikocredit-Darlehen von mehr als einer halben Million Dollar. So konnte Santa Anita auch den Unternehmensaufbau von Morales mit mehreren Krediten unterstützen. Auf seinen kreditfinanzierten elektrischen Webstuhl ist er besonders stolz. Tatsächlich gibt es niemanden sonst in der Gegend, der einen solchen Webstuhl besitzt. Und er kann sich glücklich schätzen, denn seine Ausrüstung ist inzwischen schon abbezahlt. Mit dem laufenden Kredit von Santa Anita kann er für das Familienunternehmen Garn in größeren Mengen kaufen. Verkauft werden die Hängematten auf dem Wochenmarkt und in Geschäften an der Küste. Das Einkommen hat ihnen ein Stück weit ihr „Buen Vivir“ ermöglicht. Dazu gehören für sie ein solides Haus und die Ausbildung ihrer drei Kinder. Der Jüngste studiert soziale Entwicklung und seine Mutter hofft, dass er später in ihrer Gegend arbeitet.
Chancen in der Heimat
Globale Gerechtigkeit und mehr Chancengleichheit: Das sind auch seit jeher die Antreiber der Entwicklungsgenossenschaft Oikocredit. Als Graswurzelbewegung kümmert sie sich seit 1975 darum, dass Kleinunternehmer in Entwicklungsländern Chancen auf eine bessere Zukunft bekommen. Oikocredit finanziert derzeit weltweit rund 800 soziale Unternehmen. So können Kleinkredite an Menschen wie Rafael Morales vergeben werden. In Ecuador hat die Genossenschaft rund 50 Millionen Euro investiert.