Die BürgerSozialGenossenschaft Biberach eG organisiert bürgerschaftliches Engagement. Die Geno-Graph-Redaktion sprach im oberschwäbischen Biberach mit Hubertus Droste, Vorstandsvorsitzender der Genossenschaft und Bankdirektor im Ruhestand, über die Idee und die praktische Arbeit dieser Initiative.
Herr Droste, nach einem spannenden Berufsleben, in dem Sie viel erreicht haben, ich denke nur an die Fusion zwischen den Volksbanken in Biberach und Ulm, hätte man sich auch ein entspannteres Leben „danach“ vorstellen können. Nicht so bei Ihnen. Sie starten noch einmal „genossenschaftlich“ durch. Was veranlasst Sie dazu, was treibt Sie an?
Na ja, wenn man ein Leben lang viel gearbeitet hat, kann man nicht von heute auf morgen umschalten. Und dann braucht es natürlich die gute Idee zur rechten Zeit und die Neugier, noch einmal etwas ganz anderes anzufangen, sowie gleichgesinnte Mitstreiter. Und so ging es auch meinen heutigen Vorstandskollegen Roland Groner und Heiko Fehse. Wir drei Rentner, ein Mediziner, ein Architekt und ich als Kaufmann, wollten noch einmal gemeinsam etwas menschlich Sinnvolles unternehmen.
Die BürgerSozialGenossenschaft Biberach wurde erst 2015 gegründet. Können Sie uns etwas zu Ihrer Entstehungsgeschichte erzählen? Was der Anlass Ihrer Gründung?
Der Anlass war die Sorge einer Gruppe von sozial denkenden und bürgerschaftlich engagierten Menschen in unserer Region, nämlich die Sorge vor der schleichenden demografischen Entwicklung und Veränderung unserer Gesellschaft. Wir kennen das: Die Zahl der Rentner steigt, die Menschen leben länger und werden älter, die Geburtenrate sinkt und die unser Umlagesystem „tragenden“ Arbeitnehmer werden weniger. Die Kosten der Sozialsysteme werden spürbar steigen, und wenn die Gesellschaft das nicht mehr bezahlen kann, kommt es zu Leistungskürzungen. Es trifft immer die Schwächsten der Gesellschaft. Diese Entwicklung verlangt, so unsere Meinung, neue, zeitgemäße Rahmenbedingungen, die es allen Bürgern erlaubt, so lange wie es eben möglich ist, ein selbstgestaltetes, ein menschliches Leben führen zu können.
Der alternde Mensch soll in Würde alt werden und möglichst lange in seiner gewohnten Umgebung leben. Und der junge Mensch, der in der heutigen Welt oftmals vielfachen Belastungen ausgesetzt ist, soll bei uns genauso Hilfe zur Überwindung seiner alltäglichen Probleme finden wie der Kranke, der Schwache, der Demenzerkrankte oder die Menschen mit Behinderung. Das ist eine immense Aufgabe, die – neben professioneller Hilfe – immer mehr durch das bürgerschaftliche Engagement jedes Einzelnen von uns gelöst werden muss. Allerdings waren hier in Biberach die Initiatoren als Vordenker sehr stark ideell unterwegs. Es fehlte bis zur Gründung im Mai 2015 an Personen – wie wir Rentner –, die sich mit der notwendigen Zeit und Erfahrung um die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Umsetzung kümmern konnten.
Neben meiner 40-jährigen genossenschaftlichen Tätigkeit half natürlich die schnelle und unkomplizierte Unterstützung des BWGV, die Genossenschaft mit ihrer für unsere Anforderungen passenden Rechts- und Wirtschaftsform zu platzieren. Nicht zuletzt auch wegen der gewünschten Prüfungsfunktion des Verbands, des Beratungsangebots sowie der zeitgemäßen demokratischen und transparenten Abläufe in einer von Mitgliedern getragenen Gemeinschaft.
Wie gelingt es Ihnen, dieses vorgenannte bürgerschaftliche Engagement einzufangen?
Nach anerkannten Studien ist die Bereitschaft der Bürger, sich ehrenamtlich sozial zu engagieren, in allen in Frage kommenden Altersgruppen vorhanden. Vor allem ist sie in der älteren Generation vorhanden. Wir haben nichts anderes getan, als den Rahmen, den Raum zu schaffen, in dem sich bürgerschaftliches Engagement so entfalten kann, dass die Hilfen direkt bei den betroffenen Menschen ankommen. Sie müssen sich eine Plattform vorstellen, auf der sich Menschen – mit unserer Hilfe – begegnen, die sich gegenseitig helfen und unterstützen wollen und fortan ihre alltäglichen Arbeiten, Probleme und Sorgen gemeinsam anpacken, zu deren Bewältigung sie allein nicht oder nicht mehr in der Lage sind. In unserem Büro kümmern wir uns darum, dass die Abläufe organisiert werden, dass Vertretungen vorhanden sind, dass die Buchhaltung erledigt wird, dass die Pflegeversicherung eingebunden wird, dass Steuern und Abgaben abgeführt werden, dass Versicherungsschutz besteht usw. Damit hat der Einzelne nichts zu tun. Er kann sich – frei von bürokratischen Zwängen – ganz auf seine soziale Arbeit konzentrieren.
Wie viele Mitglieder haben Sie heute und welche Menschen werden bei Ihnen Mitglied?
Zusammen mit der 2016 von uns zusätzlich gegründeten WohnungsGenossenschaft eG haben wir heute 150 Mitglieder. Sie kommen aus allen Altersgruppen, überwiegend allerdings aus der älteren Generation ab 50 Jahren aufwärts. Unser jüngstes Mitglied ist 26, unser ältestes 94. Etwa zwei Drittel der Mitglieder sind aktiv dabei, helfen oder lassen sich helfen, ein Drittel der Mitglieder ist noch passiv, fühlen sich aber der Gemeinschaft insgesamt verbunden und steigen später, wenn es die eigenen Umstände erlauben, in den Prozess ein.
Mitglied werden auf der einen Seite Menschen, die aus sozialen und humanitären Beweggründen einen Dienst für die Gesellschaft leisten wollen, auf der anderen Seite Menschen, die Hilfe benötigen, die - aus welchen Gründen auch immer – ihr Leben allein nicht mehr organisieren können.
Konkret sind da beispielsweise die jungen Familien, die sich mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie schwertun oder die alleinerziehenden Mütter, die der Doppelbelastung von Beruf und Kindererziehung kaum noch gerecht werden können, oder andere Menschen, die neben Beruf oder Familie noch Pflegefälle zu betreuen haben. Auch die älteren, schwachen und kranken Menschen sind darunter, die ohne fremde Hilfe nicht mehr am Leben teilnehmen können und zu vereinsamen drohen, oder jene Mitmenschen, die sich um ihren vertrauten Wohnraum Sorgen machen, weil ihnen die Arbeit nicht mehr so leicht von der Hand geht. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um einfache Dienste wie das Helfen im Haushalt, gemeinsames Kochen, die Pflege des Gartens, das Betreuen von Kranken, Dementen und Behinderten, das Begleiten bei Krankenbesuchen, Arzttermine organisieren, Kinder betreuen, Gesellschaft leisten, Vorlesen, spazieren gehen oder einfach Zeit geben. Vielen Betroffenen ist gemeinsam, dass sie der Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt hilflos gegenüberstehen, ein Zeichen für uns, uns auch der Wohnraumbeschaffung zuzuwenden, um für einen bezahlbaren Wohnraum zu kämpfen.
Welche Vorteile hat man, wenn man bei Ihnen Mitglied ist?
Die betroffenen Mitglieder bekommen aus der Gemeinschaft der Mitglieder die von ihnen benötigte Hilfe und zwar zu einer guten und bezahlbaren Qualität, etwa zur Hälfte des marktüblichen Preises, denn diesen Preis können sich heute viele Rentner, Alte, Kranke, Alleinerziehende aber auch junge oder kinderreiche Familien einfach nicht leisten. Im Durschnitt kostet bei uns eine Stunde 10 Euro. Davon gehen 2 Euro an die Genossenschaft zur Finanzierung des Geschäftsbetriebs.
Das ist also nicht komplett ehrenamtlich zu leisten?
Wir waren von Anfang an der Meinung, dass die ehrenamtliche Arbeit für die Gesellschaft heute schon unverzichtbar ist, und wenn sie zusätzlich verlässlich, regelmäßig und qualifiziert erbracht wird, muss sie auch – sozial vertretbar – honoriert werden. Die Leistenden können sich deshalb bei uns die eingesetzte Zeit auf einem Wertkonto gutschreiben lassen und diese später, wenn sie selbst einmal für sich Hilfe benötigen, wiederum in Form von Dienstleistungen selber in Anspruch nehmen; alternativ können sie sich aber auch für einen zeitnahen geringen Aufwandsausgleich entscheiden. Nach unserer Erfahrung wird diese Honorierung von den Leistungsnehmern gern akzeptiert, letztlich möchte man sich für eine erhaltene Arbeit auch erkenntlich zeigen und bedanken.
Sie engagieren sich auch noch in weiteren Genossenschaften in ihrer Region. Welchen Wert haben Genossenschaften für Sie ganz persönlich?
Genossenschaften sind für mich persönlich so wertvoll, weil sie Gemeinschaften sind – und das habe ich oft erlebt und das hat mich auch geprägt –, die für den Wertebereich „Helfen“ stehen, gemeinsam handeln, selbstverantwortlich nach Lösungen suchen zur Überwindung von Schwierigkeiten, von Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, zur Erreichung von ausgewogenen Zielen, menschlich, offen, ehrlich und respektvoll. So interpretiere ich auch die Ursprungsgedanken aus den Gründerjahren der genossenschaftlichen Bewegung. Daran gilt es aber auch ständig zu arbeiten.
Was schwebt Ihnen für die BürgerSozialGenossenschaft als langfristiges Ziel vor Augen?
Langfristig ist unser Ziel, das in der Bevölkerung vorhandene bürgerschaftliche Engagement in genossenschaftlicher Form, nämlich der Hilfe zur Selbsthilfe oder Hilfe auf Gegenseitigkeit, wieder neu zu beleben, zu stärken und zu bündeln. Mittelfristig streben wir hier in Biberach und Umgebung eine Zahl von 600 Mitgliedern an. Wir wollen nachhaltige Strukturen schaffen, die unterschiedliche Menschen, Junge und Alte, Starke und Schwache, Menschen mit Behinderung sowie Gesunde und Kranke, so zusammenführen, dass sie sich gegenseitig umeinander kümmern und sich solidarisch unterstützen. Sichtbares Zeichen wäre die enge Verzahnung von Helfen (Sozialgenossenschaft) auf der einen Seite und Wohnen (Wohnungsgenossenschaft) auf der anderen Seite. Dann würden wieder mehr Lebensqualität und mehr Lebensfreude in ihren Alltag einziehen und wieder mehr miteinander statt nebeneinander gelebt werden.
Gemeinnützigkeit von Genossenschaften
Spätestens seit der Genossenschaftsnovelle 2006 ist geklärt, dass die Verfolgung gemeinnütziger Zwecke in der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft grundsätzlich möglich ist. Daher bietet sich die Genossenschaft im gemeinnützigen Bereich zum Beispiel für den Zusammenschluss von Personen zur Unterhaltung einer gemeinnützigen Einrichtung (beispielsweise Schule, Kindergarten, Theater) oder auch als Rechtsform für den Zusammenschluss gemeinnütziger Einrichtungen zur Förderung dieser gemeinnützigen Einrichtungen (zum Beispiel Einkaufs- oder Absatzgenossenschaft für Behindertenwerkstätten) an.