„Genossenschaften stehen für Stabilität und Wandel gleichermaßen. In diesem Sinne sind sie ein verlässlicher Partner, der das Land bei der Umsetzung unserer Innovationspolitik unterstützt und die notwendige Transformation vorantreibt“, betonte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann anlässlich des siebten Zukunftsforum Genossenschaft. Im Stuttgarter GENO-Haus machte er am Montag (20.03.2022) deutlich: „Wir müssen nicht nur Marktanteile im digitalen Wandel sichern und unsere natürlichen Lebensgrundlagen schützen. Sondern auch einseitige Abhängigkeiten abbauen und einen Beitrag leisten, Europa stark zu machen.“ In seinem Impulsvortrag nannte der Ministerpräsident konkret Beispiele, wie Genossenschaften nachhaltig wirken: „Die rund 150 Energie- und Nahwärmegenossenschaften in Baden-Württemberg leisten einen zentralen Beitrag zur Energiewende, weil sie für Tempo und Akzeptanz sorgen. Die genossenschaftlichen Banken sind eine zentrale Stütze der mittelständischen Wirtschaft. Und die Agrargenossenschaften agieren als Treiber für eine ökologisch nachhaltige Landwirtschaft. Wir sind sehr froh, dass sich die Genossenschaften in Baden-Württemberg so vielfältig engagieren.“
„Angesichts der aktuellen multiplen Krisensituation sorgen Genossenschaften für Halt und Sicherheit“, erklärte Dr. Roman Glaser, Präsident des Baden-Württembergischen Genossenschaftsverbands (BWGV) und fügte hinzu. „Genossenschaften sind vor mehr als 170 Jahren als Antwort auf existenzielle Not gegründet worden. Sie packen an, sind pragmatisch und liefern lösungsorientierte Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit. Mit ihren charakteristischen Merkmalen ermöglichen sie Kooperationslösungen, die Tradition mit Wandel in Einklang bringen.“
Rund 750 Genossenschaften in mehr als 50 Branchen
Der BWGV-Präsident wies daraufhin, dass die rund 750 Genossenschaften in Baden-Württemberg in mehr als 50 Branchen aktiv sind. Dazu zählen neben den Volksbanken und Raiffeisenbanken, den gewerblichen Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften und den ländlichen Raiffeisen-Genossenschaften einschließlich der Winzer- und Weingärtnergenossenschaften mittlerweile auch Ärztegenossenschaften, Kooperationen von IT- und Softwareentwicklern, Kindergarten- und Schulgenossenschaften oder Dorfläden und Gasthäuser.
„Genossenschaften verbinden in idealer Weise notwendiges wirtschaftliches Streben mit sozialer Verantwortung“, so Glaser. Sichtbares Zeichen für diese gelebte Verantwortung vor Ort seien die beiden Gewinner des mit jeweils 5.000 Euro dotierten Genossenschaftspreises, der alle drei Jahre vom BWGV zusammen mit den Unternehmen der Genossenschaftlichen FinanzGruppe vergeben wird. Die beiden Preise gehen in diesem Jahr an die „Bürger für Bürger eG“ in Niedereschach (Schwarzwald-Baar-Kreis) sowie die „Allgäuer Genussmanufaktur eG“ aus Leutkirch (Landkreis Ravensburg). Glaser: „Beide Preisträger stehen für Werte wie Solidarität, Subsidiarität, Mitgliederförderung, soziale Verantwortung, ökologisches Handeln, Nachhaltigkeit und Regionalität.“
Bürger für Bürger eG
Die „Bürger für Bürger eG“ aus der Gemeinde Niedereschach bei Villingen-Schwenningen im Schwarzwald leistet mit Vermittlungsdiensten sowie ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern in vorbildlicher Weise Nachbarschaftshilfe. Die Initiative wendet sich speziell an ältere Menschen und hat ihren Schwerpunkt in der alltagsbegleitenden Unterstützung sowie der sozialen Interaktion. Denn bei Befragungen von Senioren vor Ort wurde festgestellt, dass bereits weit vor dem Eintritt einer Pflegebedürftigkeit die Bewältigung des Alltags und die Vermeidung von Einsamkeit ganz wesentliche Aspekte sind, die ältere Menschen vordringlich beschäftigen.
Daher hilft die Genossenschaft bei der Vermittlung von zuverlässigen und seriösen externen Arbeitskräften und Dienstleistern für unterschiedlichste Aufgaben etwa im Haushalt oder im Garten. Vieles erledigt sie aber auch mithilfe von Ehrenamtlichen, die für eine geringe Aufwandsentschädigung oder Zeitgutschrift tätig werden. Die Palette der Hilfe reicht vom Wechseln einer Glühbirne, über Hilfe beim Einstellen des Mobiltelefons bis hin zur Begleitung beim Einkauf oder Arztbesuch. Damit steht neben praktischer Hilfe stets auch die Sicherstellung sozialen Austauschs im Mittelpunkt.
Die Niedereschacher Genossenschaft versteht sich hierbei als „Plattform der Bürgerselbsthilfe“, die die Bereitschaft, soziale Dienste miteinander und füreinander zu erbringen, mit der Vorsorge verbindet, diese selbst beanspruchen zu können. Bürger werden direkt beteiligt, damit ältere Menschen in der Gesamtgemeinde länger in ihren Wohnungen bleiben können. Die im März 2019 gegründete „Bürger für Bürger eG“ hat mittlerweile 114 Mitglieder, von denen sich 36 aktiv als Helfer einbringen. Insgesamt haben diese bisher rund 2.500 Stunden Hilfe geleistet.
Allgäuer Genussmanufaktur eG
Die Allgäuer Genussmanufaktur erhält den diesjährigen Genossenschaftspreis für die Wiederbelebung eines ortsbildprägenden, über viele Jahre leerstehenden Brauereigebäudes in Leutkirch-Urlau, zu einem Heimat-Einkaufszentrum, das mittlerweile 18 Genuss- und Kunsthandwerker unter einem Dach beherbergt. Die im Jahr 2018 gegründete, ehrenamtlich organisierte Genossenschaft hat das Gebäude im Frühjahr 2019 erworben und bis 2020 mit Unterstützung von nahezu 1.000 Bürgerinnen und Bürger, die neben der eigenen Arbeit auch 1,3 Millionen Euro an Bürgerkapital für die Finanzierung eingebracht haben, umfassend saniert und umgebaut. Heute befinden sich in diesem „Heimat-Einkaufszentrum 4.0“ auf insgesamt mehr als 1.000 Quadratmetern neben einem Dorfladen und einem Dorfcafé zahlreiche Genuss- und Kunsthandwerker sowie ein Veranstaltungssaal, der auch als Bibliothek genutzt wird. Erwähnenswert: Mehr als die Hälfte der Mieter sind Start-ups.
Die Genuss- und Kunsthandwerker produzieren und verkaufen ihre Produkte vor Ort. Dies zieht bis zu 20.000 Besucher pro Jahr an. Dabei sind nicht nur Einheimische, sondern auch Urlauber das ganze Jahr über zu Gast – um einzukaufen, aber auch um die handwerkliche Arbeit zu erleben. Der Dorfladen ist insbesondere für Familien und ältere Bürger ein wichtiges Angebot, und das Dorfcafé hat sich zu einem beliebten Treffpunkt entwickelt. Auch als Arbeitgeber ist das Zentrum bedeutend: Mehr als 20 Menschen direkt aus dem Dorf haben im Gebäude einen Job gefunden – vor allem Frauen, die aufgrund ihrer Familiensituation nur Teilzeit arbeiten können. Das Projekt ist in seiner Konstellation und Größe in Deutschland bislang einzigartig und findet große Beachtung. Deshalb haben bereits verschiedene Gemeinden ihr Interesse am Realisierungskonzept bekundet.
Hochkarätig besetzte Fachforen
Beim Zukunftsforum Genossenschaft wurden in drei hochkarätig besetzten Fachforen grundlegende Fragen der Zukunft des Bundeslandes aus politischer und genossenschaftlicher Perspektive vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen aufgegriffen. Insbesondere das Potenzial von Genossenschaften bei Themen wie Energie, Landwirtschaft und mittelstandsorientierter Finanzierung stand im Mittelpunkt der Diskussion.
Nachhaltige Energie für Wirtschaft und Gesellschaft
Im Fachforum „Nachhaltige Energie für Wirtschaft und Gesellschaft“ diskutierten Thekla Walker, Ministerin für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg, und BWGV-Präsident Glaser über die aktuell 153 Energiegenossenschaften in Baden-Württemberg, die mit unterschiedlichsten Projekten einen entscheidenden Beitrag zur Energiewende beisteuern. Die Bandbreite reicht dabei von der Erzeugung und Lieferung von Wärme und Strom, über den Betrieb von Stromnetzen, Elektromobilität, bis hin zum vollumfänglichen Energieversorgungsunternehmen. Tenor des Fachforums: Energiegenossenschaften leisten einen wichtigen Beitrag zur Akzeptanz der Erneuerbaren Energien in der Gesellschaft.
Ernährungssicherheit und landwirtschaftliche Produktion
Die Themen Transformation und gesellschaftlicher Wandel bestimmten auch die Diskussion beim Fachforum „Landwirtschaftliche Produktion und Ernährungssicherheit“ mit Dr. Konrad Rühl, Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg, und Dr. Ansgar Horsthemke, BWGV-Generalbevollmächtigter und Bereichsleiter MitgliederCenter. Rund 280 landwirtschaftliche und ländliche Genossenschaften sind im BWGV vereint und bilden die gesamte Wertschöpfungskette ab. Um jedoch den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen besser begegnen zu können, seien langfristige Strategien, Kooperationen und Innovationen notwendig. Außerdem brauche es ein klares Bekenntnis zur regionalen Landwirtschaft. Nur so könne die Transformation zu einer ökonomisch und ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft und einer gestärkten regionalen Wertschöpfungskette gelingen und landwirtschaftliche Produktion in Baden-Württemberg gehalten werden, wurde im Forum herausgearbeitet.
Mittelstandsorientierte Finanzierung
Das dritte Fachforum „Mittelstandsorientierte Finanzierung“ griff einen wichtigen Baustein für die künftige wirtschaftliche Entwicklung Baden-Württembergs auf. Michael Kleiner, Ministerialdirektor im Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg, diskutierte mit BWGV-Vorstandsmitglied Carsten Eisele, über notwendige Unterstützung für den im Land unverzichtbaren Mittelstand. Denn: Die mittelständisch geprägte Wirtschaft in Baden-Württemberg brauche eine nachhaltige Kreditfinanzierung. Die 137 Volksbanken Raiffeisenbanken im Land seien eine zentrale Stütze für die kleinen und mittleren Unternehmen in Baden-Württemberg und würden für eine enorme regionale Wertschöpfung sorgen. Damit die ökonomische und digitale Transformation gelingen kann, brauche es jetzt eine klare strategische Zielbestimmung und politische Rahmensetzung.