„Traditionsbewusst, aber dennoch modern – diesen Gedanken lebt das Genossenschaftswesen. Dabei sind Genossenschaften ein gelungenes Beispiel für Solidarität, Verantwortungsbereitschaft und Unabhängigkeit“, sagte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann beim dritten Zukunftsforum Genossenschaft am Montagabend (5. März) in Stuttgart. „Das Genossenschaftsmodell ist im Grunde zeitlos und auch heute noch auf viele Lebens- und Wirtschaftsbereiche anwendbar. Die Vielfalt der genossenschaftlichen Angebote zeugt davon. Ich bin mir sicher, dass das Genossenschaftswesen in Baden-Württemberg beste Zukunftschancen hat. Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, wie wir genossenschaftlich, solidarisch und selbstbestimmt auf die Herausforderungen unserer Zeit antworten können.“
Ein Gestaltungsauftrag, den Dr. Roman Glaser, Präsident des Baden-Württembergischen Genossenschaftsverbands (BWGV), direkt aufgriff: „Genossenschaftliche Kooperationen helfen schon heute bei der Umsetzung der Digitalisierung, schaffen Akzeptanz für die Energiewende und bieten gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben von Unternehmen eine attraktive und sichere Form der Zusammenarbeit an. Darüber hinaus haben unsere Genossenschaften Antworten auf dringende Fragen der Daseinsvorsorge wie etwa nach einer verlässlichen Ärzteversorgung oder der Sicherstellung von Mobilität im ländlichen Raum.“ Vor rund 260 Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft machte Glaser deutlich: „Genossenschaften werden immer wichtiger, wenn es darum geht, gesellschaftliche und ökonomische Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu meistern.“
Wie vielschichtig die Genossenschaften im Südwesten sind, zeige ein Blick auf das breite Aufgabenfeld, das schon heute von ihnen abgedeckt werde. „Unsere 808 Genossenschaften im Südwesten sind in mehr als 50 verschiedenen Branchen aktiv“, sagte Glaser. Dazu zählen neben den bekannten Genossenschaftsbanken, den Warengenossenschaften und den ländlichen Raiffeisen-Genossenschaften einschließlich der Winzer- und Weingärtnergenossenschaften mittlerweile auch Ärztegenossenschaften, Kooperationen von national- und international tätigen IT- und Softwareentwicklern, Kindergarten- und Schulgenossenschaften oder Dorfläden und Gasthäuser.
Kooperationen als Zukunftsmodell
Was die genossenschaftliche Rechts- und Unternehmensform so attraktiv für auf Zukunftsthemen ausgerichtete Unternehmen macht? „Kooperationen werden immer wichtiger – und wer könnte mehr Erfahrung bei der Umsetzung von Kooperationen haben als Genossenschaften, deren Kern Zusammenarbeit und konstruktives Miteinander ist“, betonte Glaser. Außerdem seien die demokratische, auf Mitglieder basierende Aufbaustruktur sowie die einzigartige Verknüpfung von wirtschaftlichem Erfolg mit sozialer Verantwortung entscheidende Erfolgsfaktoren von Genossenschaften. „Dies schafft eine hohe Legitimation und Akzeptanz für notwendige und sinnvolle Veränderungen, die in vielen Bereichen unserer Wirtschaft und Gesellschaft gerade stattfinden“, betonte Glaser.
Der BWGV-Präsident stellte heraus, dass in Baden-Württemberg mehr als 3,9 Millionen Menschen, Unternehmen, Kommunen und weitere Institutionen Mitglied mindestens einer Genossenschaft sind. „Auf diese Weise sind Genossenschaften nicht nur wertvolle Multiplikatoren, sondern sie können auch sinnvolle Veränderungsprozesse in der Breite erlebbar machen.“
Glaser rief zu einer Kultur der Neugierde und Aufgeschlossenheit gegenüber Innovationen und Neuerungen auf – ganz im Sinne von Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Einer der beiden Gründerväter des deutschen Genossenschaftswesens, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr bundesweit gefeiert wird, sagte: „Wir wollen uns die guten alten Zeiten nicht zurückwünschen. Unsere Zeit ist ebenso gut, ja besser.“ Glaser: „Raiffeisen unterstreicht damit, wie wichtig es ist, stets die Chancen, die das Hier und Heute bietet, zu ergreifen und Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“
Ministerriege bei Fachforen
Zum Konzept des Zukunftsforums gehört es, dass sich Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Genossenschaften praxisorientiert zu verschiedenen Fachthemen austauschen und aktuelle Fragen und Themen erörtern. Der hohe Stellenwert dieses Austauschs wurde nicht zuletzt durch die hochkarätigen Gäste bei den Diskussionsrunden deutlich: In den Fachforen tauschten sich mit Fachexperten und Vertretern aus der Wirtschaft unter anderem Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut, Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau (Fachforum Wirtschaft), und Peter Hauk, Minister für ländlichen Raum und Verbraucherschutz (Fachforum Landwirtschaft), aus.
Subsidiaritätsprinzip als Richtschnur europäischer Regulierung
Ein klares Statement gegen einen „harten Brexit“ sowie die von der EU-Kommission vorgelegten Überlegungen für die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion nahm Wirtschaftsministerin Hoffmeister-Kraut von den Genossenschaften mit. Die Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds, die Einführung eigener Haushaltsinstrumente für das Euro-Währungsgebiet sowie die Schaffung eines Amts eines europäischen Wirtschafts- und Finanzministers werden von den Genossenschaften kritisch gesehen, da Kompetenzen vermischt und verlagert würden. Der BWGV spricht sich dafür aus, europaweite Regelungen nur dann einzuführen, wenn nationale Lösungen nicht ausreichend sind. „Es ist uns wichtig, dass das Subsidiaritätsprinzip die Richtschnur europäischer Politik bleibt“, erklärte Glaser in der Diskussion. Das wurde auch bereits im Rahmen des von der Ministerin zu Jahresbeginn in Brüssel ausgerichteten Wirtschaftsgipfels gemeinsam bekräftigt. Ausdrücklich lobte Glaser die Initiative „Wirtschaft 4.0“ des Wirtschaftsministeriums und deren Ansatz, die Digitalisierung als Aufgabe für alle Branchen und in einer tiefen Durchdringung der Gesellschaft zu sehen.
Forderung nach differenzierender Bankenregulierung
Im Fachforum Banken wurde insbesondere über die Notwendigkeit einer angemessen differenzierenden Bankenregulierung gesprochen. „Es kann nicht sein, dass ausgerechnet die kleinen und mittleren Institute wie die Volksbanken und Raiffeisenbanken unter der Regulierung besonders zu leiden haben“, sagte BWGV-Präsident Glaser. Das Risikopotenzial und die Größe einer Bank seien bei Fragen der Regulierung maßgeblich. Darüber hinaus sprachen sich die Vertreter der Volksbanken und Raiffeisenbanken erneut deutlich gegen eine Vergemeinschaftung von Risiken im Zuge einer europäischen Einlagensicherung aus.
Tiefgreifender Strukturwandel in der Landwirtschaft
Der Strukturwandel in der baden-württembergischen Landwirtschaft stand im Mittelpunkt des Fachforums Landwirtschaft mit Landwirtschaftsminister Hauk. Allein in den Jahren 2010 bis 2016 sei die Anzahl der Betriebe um etwa 4.000 auf insgesamt 40.600 zurückgegangen. Gleichzeitig steige die Größe der Betriebe stetig an, und auch die Spezialisierung von landwirtschaftlichen Unternehmen nehme weiterhin zu.
Genossenschaften begegnen diesen strukturellen Herausforderungen auf vielfältige Weise: Sie kümmern sich um die Vermittlung frei gewordener Flächen innerhalb der Genossenschaft, um so die bewirtschafteten Flächen konstant zu halten. Des Weiteren bietet die Genossenschaftsform innovative Möglichkeiten bei der Betriebsnachfolge, etwa für bisher Angestellte. Immer wichtiger wird außerdem eine qualifizierte Aus- und Weiterbildung, da aufgrund der zunehmenden Betriebsgröße und der Spezialisierung größere Anforderungen an die Betriebsleitung gestellt und mehr Fachkräfte benötigt werden. Mit der Initiative „Generation Geno“ hat der BWGV eine zentrale Informationsplattform für den Nachwuchs in der Landwirtschaft in den sozialen Netzwerken installiert.