BWGV-Präsident Dr. Roman Glaser spricht über die Folgen von Corona für die Genossenschaften in Baden-Württemberg und den Verband, über die wichtige Zusammenarbeit mit der Politik und über die Veränderungen, auf die wir uns einstellen können.
Herr Dr. Glaser, wie sieht Ihre erste Zwischenbilanz zu Corona aus?
Als Genossenschaftsverband, der die Volksbanken und Raiffeisenbanken ebenso vertritt wie Genossenschaften aus rund 50 weiteren Branchen, erleben wir sowohl die geschäftspolitischen als auch die wirtschaftlichen Implikationen dieser Krise ganz unmittelbar. Die Auswirkungen gestalten sich massiv, praktisch alle Branchen sind betroffen. Selbst wenn die Verbreitung des Virus hoffentlich bald eingedämmt sein wird, mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen dürften wir noch längere Zeit zu kämpfen haben. Die Wirtschaft wird sich noch eine ganze Weile im Krisenmodus befinden.
Wie lässt sich die Lage – Stand jetzt – bei unseren Mitgliedern, den Banken, der Landwirtschaft, dem Handel und Handwerk, beschreiben?
Dank guter Notfallpläne und einer professionellen Struktur kommen die Volksbanken und Raiffeisenbanken mit der Krisenorganisation gut zurecht. Viele Institute haben einen Teil ihrer Geschäftsstellen geschlossen, um ihre Kräfte auf das Wesentliche, die Bearbeitung der Krisenthemen, fokussieren zu können. Der Ansturm bei den Banken – vor allem im Firmenkundenbereich – war und ist teilweise extrem. Im Vertrieb und in der Marktfolge werden sehr viele Überstunden geleistet. Die Genossenschaftsbanken meistern derzeit einen historisch unvergleichlichen Kraftakt, um ihren Privat- und Firmenkunden auch in dieser schwierigen Situation zur Seite zu stehen und dazu beizutragen, dass die von der Politik beschlossenen Maßnahmen schnell in Wirkung kommen. Die betriebswirtschaftliche Situation der Banken ist herausfordernd. Das Zinsergebnis stand schon vor der Krise unter Druck. Absehbar wird auch das Provisionsergebnis zunächst vielfach sinken. Vor allem wird aber das Bewertungsergebnis auf beiden Seiten – Kredit und Depot A – das Ergebnis 2020 empfindlich treffen.
»Die Genossenschaftsbanken meistern derzeit einen historisch unvergleichlichen Kraftakt.«
Wie sieht es in den anderen Branchen aus, bei den Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften?
Auch in den anderen genossenschaftlichen Branchen sind die Auswirkungen teilweise gewaltig. Man kann schon jetzt sagen, dass sich die Corona-Krise massiv in den Bilanzen bemerkbar machen wird. Durch die Schließung von Geschäften und Verkaufsstellen und das Streichen praktisch aller Veranstaltungen verzeichnen die betroffenen Genossenschaften empfindliche Umsatzeinbußen – die Winzer und Weingärtner, landwirtschaftliche Genossenschaften, Dienstleister ebenso wie Genossenschaften des Handwerks und des Handels. Auch in diesen Branchen leisten die Mitarbeiter und Verantwortlichen Beeindruckendes, um den Schaden in Grenzen zu halten. Laut einer aktuellen BWGV-Umfrage verzeichnen durch die Corona-Krise mehr als zwei Drittel der Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften Rückgänge bei ihren Umsätzen, davon ein Drittel Rückgänge von mehr als 25 Prozent und 7 Prozent sogar von mehr als 50 Prozent. Wir als Verband unterstützen, soweit es uns möglich ist.
»Unsere Umfrage zeigt: Zwei Drittel der Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften haben Umsatzeinbußen.«
Wie hilft der BWGV konkret?
Durch Interessenvertretung in der Politik, abgestimmte Lobbyarbeit und die konkrete Unterstützung der Landesministerien, um inhaltliche und prozessuale Qualität in die zunächst mit schneller Hand verfassten Erlasse und Hilfsmaßnahmen zu bringen. Eine wichtige Aufgabe ist für uns auch, den Informationsfluss zu den Mitgliedern optimal zu gestalten. So haben wir sehr zügig unser Mitgliederportal um zwei Corona-Sonderseiten – eine für die Banken, eine für die Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften – ergänzt, auf denen die Mitglieder tagesaktuelle Informationen, FAQ-Listen, Hausmeinungen, Praxisanweisungen und vieles mehr zur Pandemie finden.
Daneben bieten wir auch Möglichkeiten zum Erfahrungsaustausch und zahlreiche Webinare zu Themen an, die die Genossenschaften beschäftigen – etwa zu den rechtlichen Fragen rund um General- beziehungsweise Vertreterversammlungen oder die Ausschüttung von Dividenden. Dies alles wird sehr gut angenommen. Auf einer Ideenbörse-Seite in unserem Mitgliederportal stellen wir zudem spannende Beispiele und Maßnahmen vor, mit denen Genossenschaften positiv auf die Herausforderung Corona reagieren – bewusst als Anregung zum Nachahmen gedacht.
»Eine wichtige Aufgabe ist für uns auch, den Informationsfluss zu den Mitgliedern optimal zu gestalten.«
Welche Bedeutung hat die Interessenvertretung in solchen Zeiten?
Vor allem zu Beginn der Krise war die Interessenvertretung ein 24/7-Job. Hier hat sich gezeigt, dass es sich gelohnt hat, über Jahre ein gutes Kontaktnetzwerk aufzubauen und für die diversen Anliegen der Mitglieder die direkten Ansprechpartner in der Politik zu kennen. Dadurch konnte gemeinsam viel und zudem auch schnell erreicht werden. So war der BWGV von Anfang an in die wöchentlichen Gespräche des Wirtschaftsministeriums mit den Spitzen der baden-württembergischen Wirtschaft eingebunden. Wir konnten einen wöchentlichen Austausch im Finanzierer-Kreis zu vielen für die Umsetzung in den Banken wesentlichen Maßnahmen erwirken.
Was wurde inhaltlich erreicht?
Insbesondere für die Banken ist es sehr wertvoll, dass die Möglichkeit der Feststellung des Jahresabschlusses durch den Aufsichtsrat erreicht werden konnte, wodurch der Zeitdruck zur zeitnahen Abhaltung einer General- beziehungsweise Vertreterversammlung entfallen ist. Im landwirtschaftlichen Bereich ist es uns gelungen, dass Genossenschaften als systemrelevant eingestuft wurden. Erfolge waren auch die durchgängige Öffnung der Raiffeisen-Märkte, die Wiederöffnung der Vinotheken und (Teil-)Lösungen für kleine Blumenläden.
»Im landwirtschaftlichen Bereich ist es uns gelungen, dass Genossenschaften als systemrelevant eingestuft wurden.«
Auch ist es uns gelungen, dass Bauern und Genossenschaften gemeinsam die neue „Wir versorgen unser Land“-Kampagne des Landwirtschaftsministeriums prägen. Die Interessenvertretung hat neue Prozesse etabliert und zusätzliche Wege eröffnet sowie Themen gebündelt und gestreut. Das Zusammenspiel des Bereichs Interessenvertretung mit den jeweiligen Fachbereichen und Stäben im Verband sowie dem Vorstand und unseren Mitgliedern war dabei zentral und hat sich als sehr gut erwiesen.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit der Politik und den Förderbanken konkret aus?
Diese Zusammenarbeit bildete in den vergangenen Wochen einen Schwerpunkt. Die Verankerung des Hausbankenprinzips war dabei von Anfang an gesetzt, die bestmögliche Prozessausgestaltung und die gegenseitigen Bedürfnisse und Zwänge wurden ausdiskutiert. Der BWGV war dazu auch eng im Austausch mit der Genossenschaftlichen FinanzGruppe, der Aufsicht und vielen Banken vor Ort. Es sind zahlreiche Task Forces und virtuelle Regeltermine zur Abstimmung mit Politik und Förderbanken eingerichtet worden. Unsere traditionell engen Kontakte zu den Landesministerien sowie den Förderinstituten L-Bank und Bürgschaftsbank wirken sich in der Krise sehr positiv aus.
Wir werden auf diesen Ebenen gehört und überwiegend verstanden. Die Zusammenarbeit vollzieht sich auf Augenhöhe und ist von gegenseitigem Verständnis geprägt. Die Zuschussprogramme des Landes und die Zusammenführung mit den Bundesprogrammen laufen gut. Ein großer Teil der Anträge ist bearbeitet und überwiegend ausgezahlt. Positiv ist auch, dass die Landesregierung unsere berechtigten Forderungen zur Lockerung des aufsichtsrechtlichen Korsetts auf Bundesebene unterstützt. Ganz grundsätzlich ist der offene Austausch sehr zu begrüßen.
Welches Feedback kommt von den Mitgliedern? Sind die Genossenschaften zufrieden mit unserer Krisenarbeit?
Wir bekommen überwiegend sehr positive Rückmeldungen von unseren Mitgliedern und erfahren alles in allem breite Zustimmung für unsere Unterstützungsarbeit. Der BWGV wird als kompetenter Ansprechpartner und Unterstützer in der Corona-Krise gesehen.
»Wir bekommen für unsere Krisenarbeit überwiegend sehr positive Rückmeldungen von unseren Mitgliedern.«
Wie beurteilen Sie die Reaktion unserer Mitglieder auf Corona?
Sehr unterschiedlich – ein Großteil der Genossenschaften hat sehr professionell, umsichtig und agil auf die Herausforderung reagiert. Bei manchen war zunächst auch Unsicherheit bis hin zu einer Art Schockstarre zu beobachten. Wer bereits eine gute Veränderungskultur im Unternehmen aufgebaut hat, kann bei Corona sehr davon profitieren.
Wie wirkt sich die Corona-Krise auf den Verband selbst aus?
Der BWGV wird als Unternehmen ebenfalls wirtschaftlich massiv von Corona getroffen. Das Hotel der BWGV-Akademie war über Wochen hinweg geschlossen. Zudem wurden in diesem Zeitraum keine Präsenzveranstaltungen angeboten. Auch über die Akademie hinaus mussten wir aufgrund des Kontaktverbots sämtliche Veranstaltungen absagen oder verschieben. Das Zukunftsforum Genossenschaft im März ist bereits Corona zum Opfer gefallen. Ebenso abgesagt wurden unter anderem der VR-Mittelstandstag und der Genossenschaftstag. Der eigentlich für Anfang Mai geplante Verbandstag wurde auf den 30. September verschoben. Die Beratungsbereiche des BWGV sehen sich außerdem mit zahlreichen Stornierungen konfrontiert – genauso wie das GENO-Haus. Alles in allem rechnen wir mit massiven Umsatzrückgängen, die wir – Stand jetzt – aber in ihrem gesamten Ausmaß noch nicht seriös beziffern können.
Wie reagiert das Unternehmen BWGV auf die Auswirkungen von Corona?
Wir reagieren wie alle anderen Unternehmen auch mit unterschiedlichen Maßnahmen auf Corona: Ein Großteil der Belegschaft arbeitet bereits seit Wochen ausschließlich im Homeoffice, andere abwechselnd im GENO-Haus oder zu Hause, in manchen Bereichen des Verbands befinden sich Beschäftigte in Kurzarbeit. Zudem werden Kostenstrukturen intensiv durchforstet, Prozesse weiter digitalisiert und verschlankt. Investitionen werden, soweit dies möglich ist, auf das kommende Jahr verschoben. Gleichzeitig ist es uns sehr schnell gelungen, die Gremiensitzungen des BWGV auf ein virtuelles Format umzustellen, sodass diese fast alle durchgeführt werden konnten. Auch eine Online-Konferenz für alle Genossenschaftsbanken wurde innerhalb kurzer Zeit realisiert, an der sich 87 Prozent unserer Banken beteiligt haben. Ein schöner Erfolg. Zudem haben es die Akademie und die Beratungsbereiche des BWGV kurzfristig geschafft, neue digitale Produkte und Veranstaltungen für unsere Mitglieder anzubieten.
Wie hat sich die Zusammenarbeit im Verband durch Corona verändert?
Wir sind digitaler, agiler, schneller, direkter und noch fokussierter als vor der Krise. Im Moment ziehen alle an einem Strang. Eine „Corona AG“ arbeitet seit Wochen sehr erfolgreich und bereichsübergreifend die Krisenthemen ab. Die Kommunikation im Verband und auch gegenüber den Mitgliedern wurde deutlich intensiviert und zudem dialogischer gestaltet. Im Verband ist eindeutig eine „Wir packen das“-Mentalität zu spüren, was sehr erfreulich und motivierend ist. Im Notfallmodus entwickelt der BWGV offensichtlich seine eigentliche Stärke.
In dieser neuen Art der Zusammenarbeit in der Corona-Krise sehen wir eine große Chance und eines der spannendsten Veränderungsfelder für die Zukunft. Dem wollen wir in den kommenden Wochen mit interaktiven Workshops systematisch nachspüren. Ziel ist es, die positiven Erfahrungen in der Zusammenarbeit und Kommunikation auch in die Nach-Corona-Zeit mitzunehmen und zum Nutzen unserer Mitglieder dauerhaft davon zu profitieren.
»Wir sind digitaler, agiler, schneller, direkter und noch fokussierter als vor der Krise.«
Können wir schon erste Lehren aus Corona für die Zukunft ziehen?
Eine Lehre für Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik wird sicher sein, dass wir Warnsignale frühzeitig ernst nehmen und rechtzeitig ausreichend Mittel investieren müssen, um für eine Pandemie gewappnet zu sein. Es gilt, in der nächsten Krise mehr zu agieren anstatt vor allem zu reagieren. Die Corona-Krise zeigt aber gleichzeitig, dass sie Kräfte freisetzen kann – auch beim BWGV und bei den Genossenschaften im Land. Diese Erfahrung macht Mut für die Zukunft.
Wird Corona das Wirtschaftsleben und das gesellschaftliche Leben allgemein dauerhaft verändern?
Wir werden vermutlich in eine „Glokale Welt“ eintreten, also eine Mischung aus Globalisierung, die – wenn vermutlich auch etwas abgeschwächt – weitergehen wird, und einem intensiveren Bezug, einer Rückbesinnung auf das Lokale beziehungsweise Regionale. Wenn die Menschen wieder vermehrt den Wert und die Vorteile regionaler Strukturen, Produkte und Dienstleistungen erkennen, dann kann die Corona-Krise sogar positive Folgen haben und Kräfte für Veränderungen freisetzen. Dies wird eine große Chance für unsere Genossenschaften und die genossenschaftliche Idee sein. Davon bin ich zutiefst überzeugt.